Mittwoch, 8. Dezember 2010

Mittwoch, der 08. Dezember 2010

In der Verwaltungsfachhochschule stand "Prüfungsvorbereitung" im Lehrplan, eine Klausur in Haushalts- und Finanzwesenwesen sollte noch vor Weihnachten geschrieben werden. Doch das war am Morgen des 9. Dezember 1980 vergessen und es gab in den Seminarräumen nur ein Thema: "John Lennon ist tot! - Erschossen in New York von einem irren Fan."

Der in Liverpool geborene Lennon hat zusammen mit den anderen Beatles die westliche Musikkultur nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt wie neben ihm nur Elvis Presley oder Bob Dylan. Und so standen wir, wie Millionen von Menschen weltweit, unter Schock, als er vor 30 Jahren brutal aus dem Leben gerissen wurde. Seine kurz zuvor erschienene Single "(Just like) Starting Over" aus dem Album "Double Fantasy", das kurz vor seinem Tod von den Kritikern arg geschmäht worden war, schoss kurz danach in vielen Ländern an die Spitze der Charts.

Doch so groß die Trauer um den Menschen und die Figur John Lennon damals war, so wenig schien sich für uns sein Tod auf die Entwicklung der Popmusik auszuwirken. Denn Lennons beste Jahre lagen 1980 schon lange zurück. Die musikalische Entwicklung war schon längst beim Punk und in der Elektromusik angekommen. Der damals "jungen Generation" hatte ein alter Sack wie Lennon nichts Wesentliches mehr zu sagen. Sein Einfluss - so dachte auch ich - habe sich auf die große Zeit der 60er Jahre beschränkt und war in den 70ern nur noch kurz einmal aufgeflammt. Gut: mit den Beatles hatte er schon die Musikwelt revolutioniert und die Blaupause für die Musik der kommenden 70er geschaffen. Aber das war es dann auch gewesen. - Hatte ich damals recht?

Drei Jahrzehnte (und viele persönliche Erfahrungen später) muss ich / muss man anerkennen:

1.) John und seine (Silver-)Beatles haben dafür gesorgt, dass die Rock- und Popmusik erwachsen wurde. So wie die einst jugendlichen Fans älter wurden, so wurde auch "ihre" Musik reifer. Drehten sich die Songtexte im Rock'n'Roll und bei den frühen Beatles fast ausschließlich um die Liebe und die mir ihr verbundenen Probleme, so hat John Lennon mit dazu beigetragen, dass anspruchsvollere Themen besungen wurden. Und Lennon hatte auch seinen Anteil daran, dass die populäre Musik politischer wurde.

2.) Lennon veränderte die musikalischen Ebenen des Zuhörers. Ganz pragmatisch von "Love ME do" und "I want to hold YOUR Hand" zu "SHE Loves you", "YOU'VE got to Hide YOUR love away" und "All YOU need is Love". Das verschob die Botschaft als Aufgabe/Empfindung direkt an die Fans, die sich plötzlich nicht nur wiedererkannten sondern sogar angesprochen fühlten, etwas zu tun. Vielleicht ist selbst das "Yes WE can" von Obama auf Lennons Schaffen zurückzuführen.

3.) Wenn man Bob Dylan das Verdienst zugeschreiben möchte, die populäre Musik für ernsthafte, politische Themen geöffnet zu haben, so war es wohl vor allem John Lennon, der den Menschen mit all seinen Empfindungen, Ängsten, Zweifeln und Hoffnungen in die Musik einbrachte. In seinen Solowerken ging Lennon so weit, schonungs- und bedingungslos seine privaten Abgründe und Träume offen zu legen: "Cold Turkey", "Mother", "I am the Walruss" oder "Imagine" zeigen dies und zeigen vor allem einen offen leidenen Künstler auf der Psychiater-Couch, der die ganze Welt daran teilhaben lässt.

Diese drei Punkte waren Lennons Verdienst um die Musikwelt, prägten für Jahrzehnte die Musikszene: Bands wie U2, Coldplay oder Oasis verzichteten auf Macho-Gesten a la Led Zeppelin oder The Who und stellten stattdessen ihr Leiden an der Welt offen zur Schau, machten das Private politisch

Wegweisend und bis heute "trendy" war aber auch die Art, wie John Lennon nach seiner schicksalshaften Begegnung mit Yoko Ono sein Privatleben öffentlich zur Schau stellte. Nach seiner Hochzeit mit ihr empfing das Paar 1969 die Weltpresse im Doppelbett. John und Yoko gab es bald nur noch im Doppelpack wie Christo und Jeanne-Claude. Zwei Menschen wurden zum Promi-Paar und verknüpften ihr allerprivatestes Glück mit politischen Missionen: "Woman is the Nigger of the World", "War is over, if you want it". Ebenso modern (weil zuvor noch nie so hautnah miterlebbar) war es dann, wie Lennon 1973 bis 1975 die Trennung von Yoko Ono vor den gierig-interessierten Augen der Weltöffentlichkeit zelebrierte. Gemeinsam mit seinem Freund Haerry Nilsson unternahm Lennon in seinem "Lost Weekend", wie er diese wilde Zeit taufte, Sauftouren durch das nächtliche Los Angeles und überlies es den Klatschblättern, sämtliche Ausraster zu dokumentieren. Hier wurde des Ex-Beatles' Verhalten zu einer Blaupause für peinliche Prominente der Neuzeit von Paris Hilton bis Mel Gibson.

Fünf Jahre vor seinem Tod gab Lennon schließlich das Posing auf, kehrte von seiner neuen Flamme und Privatsekräterin May Pang reumütig in Yoko Onos Ehebett zurück und präsentierte sich von Stund an als fragiler, verletzlicher Mann. Wie modern er da wieder war, zeigte sich erst aus heutiger Sicht: John Lennon hängte 1975 seine Musikkarriere an den Nagel, um sich ganz seinem Sohn Sean zu widmen, überlies die "Geschäfte" Ehefrau Yoko Ono und war damit wieder gesellschaftliche Avantgarde. Auch das Comeback-Album "Double Fantasy", kurz vor seiner Ermordung erschienen, war, ohne dass es hierbei eines Drucks von Yoko bedurft hatte, eine paritätische Arbeit: jeder der beiden Ehepartner steuerte die Hälfte der Songs bei.

John Lennon ist ohne Zweifel seit drei Jahrzehnten physisch tot, lebt aber in unserer heutigen Musik und Gesellschaft weiter.

Rainer W. Sauer

1 Kommentar:

radiospeziale hat gesagt…

In der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember 1980 stand ich in der Ruinenbergkaserne Potsdam auf Wache. Die Kalaschnikow über der Schulter, 4 aufmunitionierte Magazine am Mann. Diesmal hatte ich das kleine russische Transistorradio (verbotenerweise) allerdings nicht dabei und hörte deshalb erst nach Wachablösung über den per UKW empfangbaren RIAS im Wachlokal (verbotenerweise) von dem Mord an John Lennon. Ich war 19 Jahre alt, sprachlos und natürlich traurig. Das erste Lied danach im Radio, an das ich mich erinnern kann, war JEALOUS GUY. Aber das war wohl irgendwann später, denn dazu steht mir das Bild meiner Soldatenstube vor Augen, offenbar Tage nach dem Todesdatum. Trotzdem finde ich, dass mir meine (falsche) Erinnerung mit dem "eifersüchtigen Typen" eine Wahrheit vermittelt hat: Eifersucht mag sich über Selbsthass zu Allmachtsfantasien übersteigern und gewalttätige Resultate zeitigen. - BLESS YOU, JOHN LENNON.