Zum Tode von Steve Griffin
Wer Steve Griffins Büro in der Londoner "ELECRONICLE"-Redaktion betrat, merkte schnell, dass hier kein Durchschnittsredakteur seinen Platz hatte: Nicht nur, dass die Unordnung auf Tisch und Boden phänomenal war - was immer sich an Sondermüll der Pop- und Elektronikkultur angesammelt hatte, zeugte davon, dass hier ein ziemlich weltgewandter, mit den Codes der Gegenwart vertrauter Schreiber hauste. Und dann waren da noch an den Wänden Plattencover und Plakate, die Griffin, vor allen in den 80er- und 90er-Jahren selbst gestaltet hatte. Aha, dachte man dann, der Kerl ist auch ein Künstler, was durchaus richtig war, hatte er doch einst eine ganze Zeit lang bei "Hipgnosis"-Masterbrain Storm Thorgerson gearbeitet, bevor er komplett ins Journalistenfach wechselte.
Nach einer längeren drögen Phase hatte "ELECRONICLE", in den frühen Achtzigern als sogenannte Zeitgeistillustrierte bekannt geworden, ab 1988 richtig Fahrt aufgenommen. Prägende Schreiber waren Simon Williams (der heute beim "New Musical Express"/"NME" ist)und Paul Stokes, der auf der letzten Seite des Heftes seine geharnischten Kolumnen schrieb. Keiner aber hat das Blatt in dieser Zeit so verkörpert wie Steve Griffin.
Griffin war Mitte 30. Ein gewitzter, zurückhaltender, schmaler Junge aus Bristol, der sich gern die Ärmel seines Wollpullovers über die Handgelenke zog. Wohl nie hat ihn damals in der Öffentlichkeit jemand ohne Schirmmütze gesehen. Für eine gewisse Zeit war Griffin fast ein Popstar - oder zumindest Inbegriff des Popjournalisten. Popjournalismus, diese in den Neunzigern neu entstandene Form des Journalismus, hatte weniger damit zu tun, dass seine Schreiber bevorzugt über die Phänomene der Popkultur schrieben, die damals in den Medien noch kaum vorkam, sondern dass sie die Grenzen zur Literatur so weit zu überschreiten versuchten, wie das die festgezurrten Formate der Branche zuließen. Popjournalismus zeichnete sich durch dreierlei aus: 1. Phantasie war wichtiger als Recherche; 2. kein Satz sollte so geschrieben sein, wie man es auf den Journalistenschulen beigebracht bekam. Und, 3., die Texte waren ziemlich subjektiv.
Niemand beherrschte dieses Genre bis heute so wie Steve Griffin. Als er Madonna in Paris zum Interview traf, schrieb er kaum über Madonna selbst, sondern erstmal darüber, dass man ihn nicht zum Interview ins Ritz lassen wollte. Als ihn eine Plattenfirma zu Bod Dylan schickte, kamen in seinem Text zwar Gott und der Teufel vor, kaum aber Dylan selbst - das Label, das den teuren Flug bezahlt hatte, war entsetzt.
In keinem seiner Texte aber konnte man die Prinzipien seiner Arbeitsweise (und damit die des Popjournalismus) so konzentriert wiederfinden, wie in einem Interview, das er vor anderthalb Jahrzehnten mit Sänger Bono von U2 führte.
Nicht nur, dass Fragen wie die, ob er als Kind zum Mond reisen wollte, für den in Formelhaftigkeit erstarrten Kulturjournalismus dieser Zeit ziemlich ungewöhnlich waren. Griffin kletterte während des Gesprächs mit dem Sänger aus dem Zimmer durch ein Fenster aufs Dach, im veröffentlichten Interview kam die Szene ebenso vor wie die Passagen, in denen nicht der Interviewer den Popstar, sondern der Popstar den Interviewer befragte. Mit Griffin hatte der Journalist in diesem Moment seinem ihm sonst gebührenden Platz im Off, im Hintergrund, verlassen und war selbst auf die Bühne getreten und Bono hatte erkannt, was für einen hochkarätigen Interviewer er da vor sich hatte. Die "ELECRONICLE"-Redaktion setzte daneben ein Foto, auf dem Griffin genauso groß zu sehen war wie Bono; wahrscheinlich hatten sie da längst gemerkt, dass sie nicht irgendeinen Redakteur beschäftigten - sondern DEN Journalisten der Neunziger schlechthin.
1999 wurde "ELECRONICLE" für acht Jahre eingestellt, denn die Errungenschaften des Popjournalismus, der zu Beginn so neuartig und spielerisch gewesen war, sickerten langsam durch die Medienbranche. Sie sind heute im Kulturteil des "SPIEGEL" ebenso selbstverständlich geworden wie bei "Bild am Sonntag" und kommen selbst in den bemüht witzigen ARD-Einspielfilmchen der Fußballweltmeisterschaft vor.
Doch wie so oft bei Epochenbrüchen waren es nicht die Vorreiter, die Karriere machten, sondern eine weniger stürmische Nachhut. Steve Griffin schrieb nun für die "TIMES" ebenso wie für den "NME", in Deutschland laß man ihn im Magazin der "FAZ" und gelegentlich sogar in der "BUNTE". Doch nie wieder gingen die Strömungen der Zeit, die Möglichkeiten, die eine Redaktion ihm einräumte, und Griffins unbestreitbares Talent so glücklich zusammen wie bei "ELECRONICLE".
Als das Blatt 2007 wieder neu auf den Markt kam, dieses Mal im Verlag des "NME", umwarb man Griffin, doch der weigerte sich zuerst bei dem "Klon", wie er das neue "ELECRONICLE"-Magazin nannte, mitzuwirken. Wie viele Journalisten der Zeit veröffentlichte Griffin Romane ("3 Kinds Of Sailing", "Anger") und lotete darin die von Vorbildern wie Bret Easton Ellis und Douglas Coupland vorgegebenen Möglichkeiten der Popliteratur aus. Sein eigentliches Metier aber war nicht der Roman, sondern jene schwer greifbare Mischform im Niemandsland zwischen Journalismus und Literatur.
Also nahm er 2009 seine Arbeit für "ELECRONICLE" wieder auf und interviewte den Musiker, Produzenten und Musiktheoretiker Brain O-N-E. Die Chemie muss gestimmt haben, denn der sonst erher scheue Brite stimmte weiteren Interviews mit Griffin zu und tat sogar eigentlich Undenkbares: er widmete der Journalistenlegende einen Song auf seinem aktuellen Album, den er nach Griffins ersten Romantitel benannte.
Vielersprechend war Anfang des Jahres die Ankündigung, Griffin habe sich für sein neues Buch "Tempo" in Brasilien auf die Suche nach dem Bossa-Nova-Urvater João Gilberto gemacht. Eine literarische Langzeitreportage wurde angekündigt. Steve Griffin sollte ihre Veröffentlichung Ende April nicht mehr erleben. Am Samstag ist er überraschend in London gestorben. Er wurde 55 Jahre alt.
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