Vor 20 Jahren, am 03. Oktober 1990, erschien das Album »ODYSSEUS« von Charly Davidson
Hier ein Bericht aus dem "TEMPO"-Magazin vom Oktober 1990, verfasst von Steve Griffin:
Sieben Minuten Stille, damit endet das siebente Studioalbum des in Frankfurt am Main ansässigen Deutsch-Rock-Stars Charly Davidson, der in den letzten Jahren international auch als Erfinder der "Lounge Musik" bekannt wurde, dies aber unter seinem richtigen Namen Karl David Korff.
Sein neues Werk (eine Doppel-CD/Doppel-LP) hat Davidson mit viel Pathos "ODYSSEUS" getauft und man wird, selbt als eingefleischter Fan (oder gerade dann) wohl noch Wochen brauchen wird, um es in seiner ganzen Komplexität, seinem Wirbeln von Zeichen, Zitaten, Narreteien und Pamphleten zu begreifen. Dennoch sei hier schon einmal eines klargestellt: Ein besseres, beängstigenderes, ja, bedeutsameres deutschsprachiges Album wird es dieses Jahr kaum noch geben.
Nach schroffen Attacken auf unsere Gesellschaft und die Menschen, die in ihr leben, auf seinen Alben 1 bis 3 ("Kontaktaufnahme", "Das kleine Mal" und "Zeichensprache"), nach dem Erreichen der Lust als Vorstufe zur großen Panik auf seinen Alben 4 bis 6 ("Lichtblick", "So! Zusagen" und "Viel Spaß") ist Davidson nun bei Deutschand im Allgemeinen und den großen Zusammenhängen des Privaten mit dem Weltbewegenden, sprich: der melancholischen Tragödie, angekommen.
Nennen wir es ein Nebengleis in seinem Musikwerk, aber Davidson leitet aus ihm die Gewissheit ab, Popmusik diene in Deutschland nur dazu, uns vorzugaukeln, unsere Probleme hätten nur mit uns selbst zu tun, nicht mit dem System. Und er lenkt ganz geschickt mit Titelnamen wie "Vaterland", "Schweren Herzens", "Trojanische Pferde", "Traue keiner Antwort", "Zwei Hymnen", "Ideal und Wirklichkeit", "Einigkeit und recht auf Freiheit", "Öde Ode (für die Verlierer der Wende)" oder "Wir sind Helden" sowie dem Veröffentlichungszeitpunkt am Tag der neuen Deustchen Einheit - der Verschmelzung zweier Staaten, die irgendwie zusammengehören sollen oder müssen - von der griechischen Tragödie und den Irrfahrten des Ithakers ab ... und will doch genau dies erreichen: die Parallele zwischen der Odyssee und der Deutschen Gegenwart.
"Man sieht: im Großen und Ganzen / alles ist beim Alten / im Rahmen neuer Tolleranzen / Nur, daß man irgendwie spürt / besser wäre es, einfach aufzuhören / gilt es doch weiterhin / unsere Erde zu zerstören", sind Zeilen aus dem 6 Minuten 30 langen Schlußepos "Wir sind Helden" (auf das nur noch die Stille folgt), das damit die gut 50 Minuten zuvor gehörter Musik zu verhöhnen scheint. Schöne, musikalisch aufs Wesentliche reduzierte Lieder gibt es da, die mal Dylan, mal die Stones, mal New Order evozieren. Produzent und Davidson-Kompanion Helmut Prosa hatte, so hört man, freie Hand, Davidsons Lieder in, zum Text passende, Klanggemälde umzuwandeln.
Überhaupt machen die Songtitel ein ganzes Fass popgeschichtlicher Klassiker auf und sind schon von der Wortwahl her vertrautes Terrain für den Hörer. Und doch wird man den Eindruck nicht los, diese ganze Exposition aus 13 grandiosen Songs auf zwei Tonträgern diene nur als Verwirrspiel, denn am Ende, mit "Vaterland (Eine Rückkehr)", eben der angesprochenen sieben Minuten Stille, wird jedes Mikadostäbchen der Deutung und Verortung lustvoll vom Tisch gefegt, bis als logische Folge nur die Sprachlosigkeit übrig bleiben kann. Und - besonders clever von Davidson - die Stille macht schon mal neugierig auf sein nächstes Album.
Bis dahin kann man sich an 13 Liedern (plus 1 x Stille) über die Vereinsamung und Vereinzelung des Individuums erfreuen, die Davidson durchaus in Einklang mit der schier endlosen Seefahrt des Odysseus setzt. Dieses Doppelalbum ist mehr als das Erkennen der möglichen Folgen der Wiedervereinigung Deutschlands für die Deutschen, dieses Album ist die Kampfansage einer Mannes, der mit Ideologien und großen Worten fürs erste gebrochen hat, sich besonnen hat aber sich nicht aufgegeben. Bei Charly Davidson, einst Ikone der Intellektuellen Deutschlands, ging es schon immer um etwas Elementares. Und mit "Odysseus" kommt jetzt endlich auch der Ernst des Lebens im hier und heute mit ins Spiel.
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