Genau vor sieben Jahren nahm sich Charly Davidson eine Auszeit von zweieinhalb Wochen und erkundete ganz allein und auf eigene Faust mit seinem Mercedes 300E Europa, ausgerüstet nur mit dem Nötigsten, darunter ein IBM Notebook und ein Zelt.
Bei dieser Kreuz&Quer-Fahrt entstand unter dem Titel "17 Tage Europa" eine Reisebeschreibung, die wir hier mit ausdrücklicher Genehmigung seiner Töchter Caro und Georgia in den nächsten 17 Tagen erstmals und exklusiv veröffentlichen werden.
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17 TAGE EUROPA
(Charly Davidsons Sommerreise 2002)
Donnerstag / 2002-07-25
Der erste Tag / Jena | Bayreuth | Stuttgart | Baden-Baden
BAYREUTH / BEIRUT?
Abreise ist um 13 Uhr. Doch schon gegen 15 Uhr steige ich in Bayreuth wieder aus dem Auto. Warum so schnell eine erste Pause? Es ist im Grunde ganz einfach: Weil hier und heute die Wagnerschen Passionsspiele beginnen.
Hier ist der Ort, hier ist die Zeit. Und die scheint stehen geblieben, seit dem der Meister persönlich vor mehr als 125 Jahren auf dem Festspielhügel die Wurzeln für ein grunddeutsches Missverständnis legte. Nirgendwo auf dieser Erde treffen so viele Menschen aufeinander, die sich dem Kulturerbe als notwendigem Übel hingeben und sich dabei selbst inszenieren. Wer Wagner ist, warum er war und was er wollte - wen interessiert das hier, jetzt und in Bayreuth schon? Entscheidend ist die Tatsache, dass jedes Jahr etwa 600.000 Menschen den Passionsspielen beiwohnen wollen aber nur 60.000 hereingelassen werden. Hier und jetzt und in Bayreuth überhaupt ist ‚...dabei sein...‘ wirklich einmal ALLES. „Ich bin dabei, Du bist dabei und er/sie/es sind draußen geblieben. Wie schade! - Sag mal, wie lange geht der Ring heute? Weil wir gerade beim Ring sind: Mein Mann hat sich diesmal, wieder mal, nicht lumpen lassen. 20.000 hat mein neuer Ring gekostet. Hatte ich Dir davon schon erzählt?...“
Was hier zählt ist Geld und Macht und Rock 'n' Roll, letzteres ausschließlich bezogen auf die Kleider und die von Ihnen zu kaschierenden Essensreste an den Hüften. Die Männer dagegen spielen in Bayreuth ganz andere Rollen. Da ist zum Beispiel der Parteichef, unverkennbar in Siegfried-Manier, hinter ihm steht im Sommer-Loch schon Hagen und schmiedet gar böse Pläne. Und dort ist auch Tristan, der Isolde gerade an einen Wurstfabrikanten verloren hat und sehnlichst auf eine neue Gespielin wartet. Ah, da hinten kommt Parsifal, der gute Ritter, dem in ein paar Wochen seine Flugaffären (oder waren es unerlaubte Hilfsmittel zur Leistungssteigerung?) zum Verhängnis zu werden drohen. Seine Rüstung - noch glänzt sie im Sonnenlicht - hat er da dringend nötig, mehr als jemals zuvor in seinem Leben. Wo ist denn ... Ja! In der Ecke sieht man auch Gunther, keiner hat ihn eingeladen, aber einer wie er kommt doch immer irgendwie rein. Und wenn es nicht auf die sanfte Tour geht, dann geht es eben anders. An Gunther kommt niemand vorbei. Höchstens Tannhäuser. Wie bitte...Tannhäuser? Helmuth Tannhäuser, natürlich! Was? Sagen Sie bloß, Sie kennen den neuen Staatsminister im auswärtigen Amt noch nicht?
Deswegen kommen sie doch alle nach Bayreuth. Wer interessiert sich von der Mehrzahl der Besucher schon wirklich für Wagner? Die Musik ist ein Marathonlauf, die Aufführung langweilig und die Inszenierung versteht sowieso keiner der Anwesenden wirklich. Sado-Masochismus in Rheingoldkultur sozusagen.
Und dann erst die Familie Wagner höchstselbst. Natürlich verwundert es nicht, dass die Nachfahren und -fahrerinnen des Meisters die Intrigödie zu ihrem Lebenselixier werden ließen. Wer schon jede Menge Kultur im Blut hat, der darf sich (sozusagen als Ausgleich) auch so richtig daneben benehmen. Kinder, Enkel, Urenkelinnen, UrUrUrUrsöhne und -töchter gibt es ja genug.
In Bayreuth erkennt man auch, warum TV-Serien wie "Dallas" und die "Schwarzwaldklinik" eingestellt werden mussten. Nein, nicht, weil der Stoff für Drehbücher ausgegangen war oder das Interesse des Publikums nachgelassen hätte - weit gefehlt. Man konnte die Tantiemen nach Bayreuth nicht mehr bezahlen, wo alles, was im Fernsehen in Seifenopern gezeigt wurde, zuerst passierte. Was hier tagtäglich an Urheberrechten produziert wird, entspricht durchaus Richards Geniequote. "Die Wagners" und "Die Wagners schlagen zurück", "Wagners Erben", "Die Wagners in Bayreuth" und "Die Rückkehr der Wagners" - klassische Filmthemen mit absoluter weltweiter Erfolgsgarantie. Krieg der Titanen und Walküren als Kult-Urerbe. Bayreuth/Beirut? Der Franzose spricht es sogar schon richtig aus: Beyrouth.
Der Vergleich scheint auf den ersten Blick nicht zu funktionieren, denn im Libanon sterben oder starben echte Menschen. Traurig genug. Aber in Bayreuth weiß man vorher, dass alles ein Spiel ist; jedermann weiß das. Und in einem Wagner-Spiel, da sterben anstelle der echten Menschen stellvertretend die Protagonisten. Und am Ende der Tragödie stehen sie alle wieder auf, verneigen sich vor dem Publikum und treten ab. Nach 37 Vorhängen. DAS ist die wahre Kunst.
Deshalb führt mich meine Reise am ersten Tag als erste Station nach Bayreuth. Nicht dass ich wirklich bei der Eröffnung der 91. Richard-Wagner-Festspiele dabei sein möchte. Es geschieht alles sozusagen solidarisch. Ich bin präsent, dort wo "es" passiert. Die kulturgeschwängerte Luft will ich einsaugen. Und möglichst schnell wieder auszuatmen. Denn sonst kostet es vielleicht noch etwas. Vielleicht eine Atemluftbenutzungsgebühr? Gerade erdacht im Kopf des Herrn Tannhäuser. Das wäre wirklich so verwunderlich nicht, da die 30 Veranstaltungen des Festspiele mit rund 5,2 Millionen Euro jährlich subventioniert werden. Das ist viel denken Sie? Weit gefehlt. Bayreuth ist hier mit nur 40 % Subventionierung fast schon ein Vorzeigeobjekt. Andernorts wird Oper und Theater mit bis zu 90 % gefördert. Daran sieht man wieder einmal, wie gut sich Kunst rechnet, wenn alle hinwollen und es einem Gnadenerlass des höchsten Gerichtes nahe kommt, eine Eintrittskarte ins Paradies zu erhalten. Und um mit Tucholsky zu enden: Ein Sitzplatz möchte es schon sein.
Zur gleichen Zeit, wenn es heute Abend in Bayreuth losgeht, bin ich schon wieder unterwegs und betreibe gerade Autobahnenforschung; Richtung Stuttgart. Gegen 22 Uhr folgt dann eine Übernachtung bei Baden-Baden im meinem eigenen "Hotel zum Stern". Und morgen geht es dann weiter nach Frankreich. Ganz gemächlich. Mit einer kleinen Zwischenstation in einer Stadt, die so ähnlich heißt wie meine langjährige Heimatstadt: Offenburg.
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