Sonntag, 26. Juli 2009

Sonntag, der 26. Juli 2009

17 TAGE EUROPA
(Charly Davidsons Sommerreise 2002)
Freitag / 2002-07-26
Der zweite Tag / Baden-Baden | Offenburg | Mulhouse | Besancon | Beaunne | Chalon-sur-Saône
EUROPÄISCHE MENTALITÄTEN

Geboren wurde ich zwar in Wales, groß geworden bin ich jedoch in Offenbach am Main. Interessanter weise liegt zwischen Baden-Baden und meinem für heute geplanten Übertritt auf französisches Territorium das Städtchen Offenburg, in Deutschland vor allem bekannt durch seine Beherbergung des BURDA-Verlages. Etwa halb so viele Einwohner wie Offenbach am Main hat es. Die Unterschiede zwischen Offenbach und Offenburg wecken mein Interesse. ‚Meyers Handlexikon Band 2 -Lb bis Z-, im Jahre 1977 in der Deutschen Demokratischen Republik gedruckt und von mir kurz vor der Reise günstig in einem Antiquariat erstanden (Band 1: -A bis La- wurde von mir zwar schmerzlich vermisst, aber da ich es nicht ändern konnte, muss ich sozusagen mit der Halb-Welt auskommen und werde wohl niemals erfahren, was ein Lama wirklich ist: südamerikanisches Nutztier oder tibetischer Religionsführer), kennt zwar Offenbach am Main, verschweigt dem Leser jedoch, dass es auch ein Offenburg gibt. Dafür gibt es an meiner Autobahn aber eine ‚Offenburg‘ betitelte Autobahnabfahrt, die ich am zweiten Tag meiner Reise bereits gegen acht Uhr morgens nutze. Dabei bewegt mich die Frage: Wieso durfte der gelernte DDR-Bürger nicht wissen, dass es Offenburg gibt? Und warum sind selbst so winzige Flecken in Meyers Handlexikon verzeichnet wie Reykjavik oder Sousse. Gut Nowosvetlonsk war (aus Gründen, die sich später noch zeigen werden) ebenfalls nicht erwähnt, dafür aber immerhin Noworossijsk - aber darum soll es ja eigentlich nicht gehen.

Offenburg zeichnet sich zu aller erst dadurch aus, dass ein Wasser durch die Stadt läuft; dies spielerisch kultiviert in kleinen aber feinen Rinnsalen. Außerdem ist die Innenstadt voller Skulpturen. Fast alle sind beweglich, ihre Glieder sind drehbar und das bereitet vor allem den Kindern großen Spaß. Vor einem Schreibwarengeschäft gibt es als Sonderangebot kleine Notizkladden für einen Euro das Stück. Acht dieser Notizbücher legte ich an der Kasse auf den Tresen und man will mir 36 Euro dafür berechnen. Ich frage nach. „Oh! Entschuldigen Sie“ sagt die Dame „die sind ja reduziert worden“ und möchte nun 16 Euro von mir haben. Man merkt, dass der Schwabe an sich ein Mensch ist, dem das Geld lieb und teuer geworden ist. Ich amüsiere mich still, zahle gerne meine 16 Euro -acht Euro für die Kladden und acht Euro Gage-, lächele weise und denke, dass der Euro nicht nur etwas mit Europa zu tun hat sondern auch mit europäischen Mentalitäten.

Um die Mittagszeit fahre ich wieder auf die Autobahn. Richtung Basel geht es und dann auf der Autoroute (mit eigenem Radioprogramm auf UKW 107,7 Mhz) nach Chalon-sur-Saône, dort wo Frankreich am französischsten ist und ein Campingplatz so nah am Herzen der Stadt liegen soll, dass man es fast schlagen hört. Weil meine Tochter mich fragte, was denn alles so in Chalon passiert ist, warum dieser Ort so wichtig sei, dass ich ihn anfahre, und ich doch nur Orte und Landschaften aufsuchen, an denen irgend etwas geschehen ist oder mit denen etwas verbunden wird, was bedeutend ist, deshalb sage ich es hier zur einfachen Erklärung: Chalon ist mein Ziel, weil es zentral auf meiner Reiseroute des Monats Juli liegt. Das mit dem französischen Herzen hatte ich ja schon erwähnt und ‚Saône‘ spricht man wie die ‚Sonne‘ aus. Wer könnte also einer solchen Stadt widerstehen?

Und einen weiteren Grund kann ich in die Waagschale werfen: In Chalon wurde 1765 Joseph Nicéphore Niepce geboren. Der Name sagt Ihnen nichts? Es ist der Mensch, welcher 1822 die ersten Photographien herstellte. Doch es erging ihm wie Cristóbal Colómbus und dem von ihm entdeckten Erdteil, der später aufgrund des Irrtums des deutschen Kartographen Martin Waltzemüller nach dem Vornamen des italienischer Seefahrers Amerigo Vespucci genannt wurde und so, Vespucce und Waltzemüller unsterblich machte. Europäer sorgten also schon immer für Verwirrung und die Erfindung des Photoapparates blieb deshalb aus immer mit dem Namen eines anderen Franzosen verbunden, Monsieur Daguerre, der erst sechs Jahre nach Joseph Nicéphores Tod dessen Fototechnik weiterentwickeln konnte. Monsieur Niepces postmortaler Bescheidenheit zum Trotz und seiner Erfindung zu Ehren hat man ihm in Chalon-sur-Saône ein großes Museum gewidmet.

Es ist Freitag später Nachmittag als ich auf dem Campingplatz in Chalon/Saint-Marcel am Ufer der Saône einchecke, mein Zelt aufbaue und auf Chalon blicke. Schnell noch in die Stadt und ein Baguette geholt. Das ist kein Problem, denke ich, bestelle es und erhalte zwei. Ich wiederhole noch einmal, dass ich ein Baguette haben möchte. Die nette Verkäuferin nickt, versucht meinen Fingerzeig zu deuten und legt noch eines drauf. Bezahlt wird in Euro, der Einheitswährung; die Einheitssprache ist noch nicht erfunden. Dafür habe ich nun zumindest genug Brot für meine weitere Reise.

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