Montag, 10. August 2009

Montag, der 10. August 2009

17 TAGE EUROPA
(Charly Davidsons Sommerreise 2002)
Samstag / 2002-08-10
Der siebzehnte und letzte Tag / Wertheim | Würzburg | Nürnberg | Bayreuth | Jena
DIE WELT HAT MICH WIEDER, DOCH WAS HAT DIE WELT DAVON?

Dauerregen. Ich stehe kurz vor sechs Uhr auf, sitze kurz danach schon wieder am Laptop und bereite mich darauf vor, Bilanz zu ziehen, zuhause über die Reise zu berichten. Der Laptop war ein zuverlässiger Begleiter, manchmal vielleicht ein bißchen zu lässig, denn es gab keinerlei technische Probleme - die Probleme, die HAL im Jahre 2001 verursachte, macht mir IBM im Jahre 2002 nicht.

Mit meinem Füller habe ich ebenfalls geschrieben, darunter auch Briefe an meine Nichte, die sich vor der Reise allgemein bei mir darüber beklagt hatte, daß sie so wenig Post bekommt. Und jetzt hat sie drei Briefe von mir erhalten, aus 17 Tagen Europa, mit drei verschiedenen Briefmarken darauf, alle mit Beträgen in Euro und doch alle unterschiedlich in Aufdruck und Höhe. Mit dem Handy hat sie mir eine SMS geschickt, daß die Briefe gut angekommen sind. Für andere Familienmitglieder habe ich Wurst und Pasteten, Käse und Wein, Meersand und mehr mitgebracht.

Mein Handy ist die 17 Tage lang überwiegend ausgeschaltet gewesen, auch wegen technischer Probleme während der Reise, intern und extern. Roaming ist eben doch nur eine Art Vorname für einen Sänger und kein adäquater Ersatz für das gute alte Münztelefon. Aber trotzdem passte das zu dem, was Heinz Rudolf Kunze in seinem Lied „Auszeiten“ gerade im Frühjahr beschrieben hatte: „Manchmal melde ich mich nicht. Das Handy ist aus, der Bildschirm glotzt stumpf und grau wie die erloschenen Augen antiker Marmorköpfe. ... Das ist eines der schönsten Gefühle.“

Aber ich meldete mich trotzdem immer wieder während meiner Reise, via Telefon, Brief, Postkarte, Reisegeschichte. Denn meine Reise ist bzw. war ja - anders als bei des Geheimrats Trip anno 1786 - weder Flucht noch Entdeckungsreise, sondern vielmehr der Versuch, Dinge, Menschen, Landschaften zu verstehen. Dante Alighieri erzählt in „Die göttliche Komödie“ die Geschichte einer Reise des Verstandes. „Der Verstand muss auf die Reise gehen“, schreibt er und genau das habe ich gemacht in den letzten 17 Tagen in Europa.

In einer Zeit, der uns die Kultur der Gesprächsführung abhanden gekommen zu sein scheint, in der in vielen Medien Floskeln und Phrasen von gut uninformierten Fragern fast schon als Versuche zu werten sind, Freundschaften zu schließen anstatt kritisch zu berichten, in der eine Abkehr des alten Grundsatz von Hanns-Joachim Friederichs „immer dabei sein, nie dazugehören“ zu beobachten ist, einzig und allein jedoch ein Fehlen von Sozial- und Medienkompetenz offenbart ... in einer solchen Zeit hat mensch ganz einfach die Pflicht, seinen Verstand auf Reisen zu schicken. Deshalb fehlt einem da auch keine einzige Sekunde an verpassten TV-Interviews, keine Quizshow, kein Nachrichtenüberblick. Und gute Filme? Na, die kann man sich im Leben immer noch einmal ansehen.

Das Radio ist auf einer slchen Reise nach wie vor kein antiquiertes Informationsportal. Auch wenn ich, egal wo ich mich gerade befände, die ganze Welt auf einem einzigen Display jederzeit zur Verfügung haben könnte, ich würde mich immer wieder für das Radio als Informationsquelle entscheiden. Denn genauso, wie die Zeitung mehrere Jahrhundertsprünge ohne größere Daseins-Schäden überstanden hat wird auch das Radio keinerlei hier Schäden nehmen. Allein, weil der Äther immer da und um uns sein wird, und weil es doch so einfach ist, Radiowellen durch den Äther auf Reisen zu schicken.

Als kleiner Junge habe ich es schon getan, in meinem Wohnblock in der Carl-Ulrich-Siedlung mit einer Reichweite von zwei Wohnungen. Und heute noch eröffnet ein Radiogerät einem Menschen Wege in die Welt, die kein anderes Medium liefert. Schalte einfach dein Radio ein; als Gegenleistung kannst du als Empfänger, wenn du dir die richtige Quelle aus dem Äther fischt, aus ihr schöpfen. Geistig verdursten braucht heutzutage niemand, so lange er ein Radiogerät hat.

Und doch: Jeder Mensch bekommt die Quelle, die Erleuchtung, den Radiosender, die TV-Sendung, das Buch, das er/sie/es verdient. Und jeder ist frei zu wählen, ob er kaltes klares Wasser zu sich nehmen will oder vielleicht einen Medien-Cocktail, frisch gemixt aus Bränden in den Vereinigten Staaten/Australien/Griechenland, verschwundenen Babys/News/Verbrechern, ausgebrannten aber trotzdem schamlosen millionenschweren SängerInnen in Dessous/Scheidung/Drogenrausch, sportlichen Fehl- und/oder Höchstleistungen, unmoralischen oder unfähigen Politikern und so weiter. Wie sich ein Mensch geistig ernährt, das ist ihm von Gott selbst überlassen.

Vieles, was heutzutage um uns herum als „das wahre Leben“ verkauft wird, ist in Wahrheit nichts anderes als Popmusik: Kreischend, intensiv, atemberaubend, morgen schon wieder vergessen und vom Grunde her unwichtig. Nicht lebensnotwendig! Und natürlich wird sich auch hier immer ein Experte finden, der bedenkenlos attestiert, daß dies alles nur eine erlaubte Ironisierung unseres Lebens ist.

Jedoch wird oft vergessen: Es ist UNSER Leben, das wir leben ... und das können wir jederzeit selbst beeinflussen. Dazu muß mensch nur seinen Verstand auf Reisen schicken.

In diesem Sinne ... vielleicht sieht man sich ja mal ... Europa an.

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