17 TAGE EUROPA
(Charly Davidsons Sommerreise 2002)
Samstag / 2002-08-03
Der zehnte Tag / Verdun | Metz | Saarbrücken
VERDUN LEBT
Stille! - Ich war in Verdun.
Gestern Abend war ich kurz vor Geschäftsschluss in der Stadt und ihren Geschäften. Eine schöne kleine Stadt mit schönen kleinen Geschäften und einem schönen kleinen Yachthafen. Verdun liegt nämlich an der Meuse. Um Irritationen schon jetzt vorzubeugen sei gesagt, dass dieser Fluss in Frankreich nicht so ausgesprochen wird, wie ihn kleine dumme deutsche Jungen aussprechen würden. Und überhaupt: Für die Deutschen hieß der Fluß schon immer anders. „Von der Maas bis zu der Memel...“, sangen sie einst und die Meuse ist, na klar, die Maas. Etwas erschreckt ist man schon, dass gleich nach dem Ortseingangsschild mit dem schaurigen Namen ‚Verdun‘ (Aha, denkt man, jetzt ist man also da!) das unsägliche McDonalds 'M' zu sehen ist. Kann das passen? Ein Hamburgerrestaurant gleich neben Schlachtfeldern? Es kann und das sogar ganz gut, den zumindest die Jugend von Verdun hat seinen eigenen Frieden gemacht mit der Geschichte und die Jugend hat schon fast vergessen, was da irgendwann einmal passiert ist, wenn, ja wenn, sie nicht auf jedem Zentimeter ihrer Stadt daran erinnert werden würde.
„Verdun, la vie“ ist überall zu lesen, und warum sollte Verdun auch nicht leben. Es scheint aber Gründe für Verduns Stadtväter (und auch der Stadtmütter? Da war doch was mit „egalite“ - oder?) zu geben, dies immer und immer zu wiederholen. Könnte es sein, das man Verdun weltweit mit dem Gegenteil von Leben verbindet? Warum eigentlich?
EIN KLEINER AUSFLUG IN DIE WELTGESCHICHTE
1914 ist es, als in Sarajevo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau ermordet werden. Ein mörderisches Schachspiel entbrennt. Am 28. Juli 1914 erklärt das Kaiserreich Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Russland steht Serbien bei und erklärt Österreich den Krieg. Deutschland steht Österreich bei und der Deutsche Kaiser erklärt erst Russland den Krieg und am 03. August 1914, also heute vor 88 Jahren, auch den Franzosen. Als Deutschland einen Tag später auch das bis dahin noch neutrale Belgien überfällt, greift England in den Krieg gegen Österreich-Ungarn und Deutschland ein; weitere Länder folgen, darunter die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika.
Bei Verdun will die deutsche Kriegsmacht nach Frankreich vorstossen, um nach Überwindung der französischen Verteidigungslinien schnell Paris zu erreichen. In Verdun steht deshalb auch die Hauptmacht der französischen Defensive und leistet erbitterten Widerstand. Ein Stellungskrieg entbrennt, bei dem der jeweilige Sieger immer nur wenige hundert Meter weit vordringen kann - um dann verlusstreich wieder zurückgedrängt zu werden. Der 1. Weltkrieg fordert insgesamt bis zu seinem Ende im Herbst 1918 über 10 Millionen Tote und wegen des Einsatzes von Giftgas, Flammenwerfern und Splittergranaten noch einmal doppelt so viele Verwundete. Dabei zählten Verdun und sein Fort Douaumont zu den schrecklichsten Orten des Landkrieges.
Das Fort Douaumont zu bauen kostete die Französische Republik 6,1 Mio. Francs in Gold. Es bot einer Garnison von 417 Soldaten und 6 Offizieren Raum. 1913 war es fertig und 1914 begann der Krieg. Am 05. August 1915 beschließen die Franzosen, das Fort mittelfristig aufzugeben, die Garnison wird langsam aufgelöst, die Vorräte aufgebraucht, die Munition mitgenommen; Kanonen und Geschütztürme wurden ebenfalls entfernt und man lies die Deutschen das Gelände um das Fort einnehmen. Am 21. Februar 1916 war dies dann geschehen und am 25. Februar 1916 konnten sich die Deutschen ungehindert in Fort Douaumont bewegen. Ab dem 26. Februar 1916 beschießen es die Franzosen Tag um Tag mit fast 4.000 Schuss vom Kaliber 155 bis 400. Am 08. Mai 1916 kommt es während des Beschusses im Fort zu einer Katastrophe. In das für maximal 500 Soldaten ausgelegten Fort sind in den Tagen zuvor immer mehr verwundete Deutsche Soldaten gebracht worden. Fast 2.000 Deutsche sind an diesem 08. Mai 1916 in Fort Douaumont. Früh am Morgen erschüttert eine starke Explosion das Fort; ein Granatendepot war explodiert und hatte ein Flammenwerferdepot entzündet. Eine Feuerwalze bewegt sich durch die unterirdischen Gänge es Forts. 800 bis 900 Soldaten verloren in diesen Minuten ihr Leben. Außerhalb des Forts konnte diese Menge an Leichen nicht bestattet werden. Deshalb wurden sie auf Befehl des Oberkommandos in zwei Kasematten gelegt und eingemauert. Aufgrund dieser Schwächung des Forts verstärken die Franzosen ihre Angriffe und am dem 22. Mai erobern sie das Gelände um das Fort Stück für Stück zurück. Es dauert allerdings noch bis zum 24. Oktober 1916, bis das Fort wieder ganz in der Hand der Franzosen war.
Heute ist es immer noch in der Hand der Franzosen. Unweit des Forts befinden sich die Gedenkstätte mit den großen Soldatenfriedhöfen und das sogenannte ‚Beinhaus‘. In Beinhaus liegen die Gebeine von 130.000 Soldaten, die genau hier gestorben sind. Ich fahre durch einen Wald, der das Ortsschild „Douaumont“ trägt. Hier war vor dem ersten Weltkrieg das Dorf gewesen, welches dem Fort seinen Namen gegeben hatte. Während der Kämpfe um das Fort, vor allem aber beim Rückzug der Deutschen Soldaten, war das Dorf „...dem Erdboden gleichgemacht...“ worden. Und man sieht genau hier, was diese Floskel bedeutet; das Dorf wurde nie wieder aufgebaut.
Am Ende des Waldes wird alles plötzlich wieder hell. Jetzt sind das Beinhaus und Abertausende von Steinkreuzen zu sehen. Vor dem Beinhaus angekommen steige ich aus und habe einen Überblick auf das Gelände, dessen Erde fast drei Jahre lang im wahrsten Sinne des Wortes „blutgetränkt‘ worden war. Hier also haben sich die schlimmsten Tragödien des Krieges abgespielt, in den Frankreich von Deutschland vor genau 88 Jahren gezogen worden war. „Silence / Stille“ fordert man im Innern des Beinhauses vom Besucher obwohl das beinahe nicht notwendig ist: Es fehlen einem die Worte! Die Überreste von 130.000 Menschen, mehr als alle Männer und Frauen und Kinder jeder kleineren Großstadt in Deutschland oder Frankreich, sind hier in diesem Haus gesammelt worden. „Wer kennt die Völker, nennt die Namen?“ scheint Schiller zu rufen und ein Zimmermann antwortet ihm „The answer, my friend, is blowin in the wind - the answer is blowin in the wind.“
Aber da war doch noch etwas. Etwas was ich als Jugendlicher hier gesehen und was mich seit damals nicht mehr in Ruhe gelassen hatte. Wieder vor dem Beinhaus schaue ich minutenlang ratlos am Sockel entlang. Als ob er geahnt hätte, was ich suche, winkt mich ein älterer Mann zu sich. Auf französisch fragt er mich mit konspirativer Stimme etwas, aber ich verstehe es nicht. Trotzdem sage ich kurz und knapp „Oui!“. Zusammen laufen wir um das Beinhaus herum und etwa in der Mitte zwischen dem Seitenflügel und der Basilika geht er plötzlich auf die Knie und ich tat das gleiche. Und richtig: Hier waren sie, die kleinen Fensterchen, die es einem erlauben einen Blick in das Dunkel unter der Treppenflucht des Beinhauses zu wagen. Denn hier liegen sie: Die Überreste der 130.000 Gefallenen. Knochen, Schädel, Rippen, Finger- und Fußglieder, Wirbel, Hüften, Gelenke. Und wir schauen sie an und die Schädel blicken auf uns. Und verbinden schon wieder alles miteinander. Für immer. Auch den Franzosen, der denkt ich sei ebenfalls Franzose, und mich, der nicht denkt, dass er ebenfalls Franzose ist, sondern, dass wir beide Europäer sind. Und in diesem Moment erkenne ich, warum und wofür Verdun lebt.
Am Abend verlasse ich die Stadt und fahre über die Autoroute nach Sarrebruck - ohne irgendeine Grenzkontrolle. Ich muss daran denken, dass dies zu der Zeit undenkbar schien, als die 130.000 Soldaten noch lebten. So ändern sich Zeiten und Menschen. - Trotzdem heilt die Zeit nicht alle Wunden. Da hilft auch kein Schnellrestaurant. Und das ist auch gut so.
Gegen 23 Uhr komme ich in Saarbrücken an und schlafe wieder in meinem 'Hotel Stern' auf einer Raststätte am Ende des Universums. Und ich denke an die Toten und den Wunsch, dass sie sanft ruhen mögen - oder wie der Engländer treffender zu sagen pflegt: „Rest in Peace“. Und natürlich in ... Stille!
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